
Papierkunst ist anziehend – und das lebendige Reden darüber bringt die Menschen in Scharen selbst an einem sommerheißen Samstagnachmittag zum Vortrag über eine besondere Ausstellung in die Nürnberger Kunsthalle. Dr. Matthias Burchardt aus Köln stellte Ende Juni 2022 mit Leidenschaft das Werk seines verstorbenen Onkels Erwin Hapke vor, ein origami-ähnliches Monument über die Möglichkeiten des Papiers, die Verlässlichkeit von Ordnung und die Grenzen des Individuums. Harriet Zilch hat die Ausstellung Geordnete Verhältnisse (4. Juni bis 28. August 2022) kuratiert, die aus vier Räumen mit vier Künstlern besteht.
„Weißes Papier“ heißt ein frühes Album (1993) der deutschen Kultband „Element of Crime“. „Ich werd' nie mehr so rein und so dumm sein, wie weißes Papier“ lautet der Refrain des dazugehörigen Songs, ein Unglückslied eines Verlassenen und wer je einmal Trost sucht, in der Melancholie, dem sei das Album, das Lied empfohlen. Und es passt, die ganze Stimmung, das Gefühl verloren zu sein, in dieser unheimlichen und jederzeit zum Unrecht bereiten Welt, die sich vermeintlich jeder vernünftigen Ordnung widersetzt – und zur Geschichte des 2016 verstorbenen Erwin Hapke.
Dem Weltenchaos hat der promovierte Biologe den geordneten Kosmos seiner Faltkunst entgegengesetzt: Die Welt des Erwin Hapke ist in über drei Jahrzehnten entstanden und hat allen zur Verfügung stehenden Raum vollständig erobert. Aus reinem, unschuldigem Papier, das er kaufte, geschenkt bekam, hat „der Weltenfalter“ (so heißt ein Podcast über ihn im WDR) zehntausende Figuren gefaltet, eine jede ein Unikat; Insekten, Rinder, Elefanten, andere Säugetiere, Sportler, Gebäude, Hexenwesen ... Diese bevölkerten sein ganzes Heim, ein riesiges ehemaliges Schulhaus im Landkreis Unna, mit drei Stockwerken; jede Wand, jeder Treppenaufgang, alle Tische, Fensterbretter, andere Ablagen waren am Ende von seinen Gestalten, ganze Herden aus unschuldigem Papier bevölkert. Nicht willkürlich hingepappt, gesteckt, gelegt, sondern geordnet, nach sorgsam reflektierten philosophischen oder naturwissenschaftlichen Weltgesetzen. Ein großartiges Werk – und ein Alptraum von einem Erbe.
Die Figuren, wie gesagt, zehntausende insgesamt, erinnern an das bekannte Origami. Schon vor der Erfindung des Papiers (ca. 100 vor Christus, wahrscheinlich in China) wurde in Japan kunstvoll gefaltet. Erst um 600 nach Christus entwickelte sich die Kunst, aus dem teuren Papier einfache und komplexe Figuren zu falten. Die klassischen Regeln sind einfach und unumstößlich: Aus einem quadratischen Stück Papier wird – unbedingt ohne Verwendung von Schere oder Leim – eine Figur gefaltet. „Diese Regeln hat mein Onkel alle gebrochen“, erläutert der Experte Matthias Burchardt lächelnd. Außerdem funktioniert Origami planmäßig nach dem Prinzip der Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit. Erwin Hapke aber hat Tausende von komplexen Unikaten geschaffen. Und gleichwohl, das Wort Origami kommt aus dem Japanischen von „oru“ für „falten“ und „kami“ für „Papier“.
Erwin Hapke, 1937 geboren, lebte als junger Erwachsener mit seiner Schwester Erna eben in jenem Haus bei Unna, der Vater, ein Schreiner, war mit der Familie aus Ostpreußen geflohen. Hapke, ein hochbegabter, aber menschenscheuer Junge, holte nach einer Schlosserlehre das Abitur nach, studierte und promovierte in Biologie. Über die folgenden Jahre gibt es nur bruchstückhafte Aussagen: Als er seine Stellung als Meeresbiologe am Max-Planck-Institut in Wilhelmshaven verlor, kehrte er nach einer kurzen Odyssee durch Deutschland Anfang der 1980 er Jahre abgebrannt ins Elternhaus zurück, wo er liebevolle Aufnahme fand. Von nun an lebte er völlig zurückgezogen. Nach dem Tod der Eltern versorgte ihn die in der Nähe wohnende Schwester. Er verließ das Haus praktisch nie und hielt sich an einen strikten Tagesablauf, schuf seine Sammlung, die er in allen Details bereits an ein nicht vorhandenes Publikum richtete. Sich selbst ein wissenschaftliches Kunstwerk, den geliebten Eltern ein Denkmal, dem Publikum ein durchdachtes Werk – so sah er die gestalteten und mit Anmerkungen aus Philosophie und Literatur versehenen Räume.
Erst am Tag der Beerdigung entdeckte sein Neffe, der Philosoph und Pädagoge Dr. Matthias Burchardt das Ausmaß dieses „Museums“, „inklusive Besuchertoilette, Wegeleitsystem, Faltanleitungen – und vorgefaltetem Papier. Zum Üben für jenes fiktive Publikum, das Hapke für die Zeit nach seinem Tod erwartet hat“, wie er sich nun bei seinem Vortrag erinnerte. Nur dem Gespür des Neffen ist es zu verdanken, dass das monumentale Kunstereignis nicht sofort im Papiercontainer gelandet ist. Das Erbe, das seine Mutter Erna erhielt, das riesige, renovierungsbedürftige Haus mit großem Grundstück, ist ein Geschenk mit einer gehörigen Portion süßen Gifts: Sie sollte den Hapke’schen Museumstraum verwirklichen. „Wir haben seit 2016 so viel unternommen, aber es ist uns nicht möglich, ausreichend Unterstützer zu finden, um ein so gewaltiges Werk zu finanzieren“, seufzte die freundliche Frau, die mit Sohn und Familie zum Ausstellungsvortrag in die Kunsthalle gekommen war. Das Haus, der Garten in bemitleidenswertem Zustand, das zahlenmäßig und inhaltlich gewaltige Kunstwerk, den Aufwand, den ausgebildetes Personal leisten müsste – eine galaktische Aufgabe, an der man nur scheitern kann. Nun sind die meisten Werke säuberlich verpackt und archiviert, ebenso wie tausende Seiten von Anleitungen, in Nürnberg ist nur ein kleiner Teil zu sehen.
Sie möchten die Papierkunst von Erwin Hapke live bewundern? Dann besuchen Sie die Ausstellung „Geordnete Verhältnisse“ in der Kunsthalle Nürnberg. Erwin Hapkes Werke sind Teil der Ausstellung.
4. Juni – 28. August 2022
Kunsthalle Nürnberg
Über den Autor:
Peter Budig hat Evangelische Theologie, Geschichte und Politische Wissenschaften studiert. Er war als Journalist selbstständig, hat über zehn Jahre die Redaktion eines großen Anzeigenblattes in Nürnberg geleitet und war Redakteur der wunderbaren Nürnberger Abendzeitung. Seit 2014 ist er wieder selbstständig als Journalist, Buchautor und Texter. Storytelling ist in allen Belangen seine liebste Form.