Handel ist Zukunft - aus Tradition. Schenkte man all den ach so modernen und mathematisch funktionellen Prognosen Glauben, dann dürfte es in wenigen Jahren sowieso keine Geschäfte mehr geben. Denn der „rationale“ Denker prophezeit, dass wir Menschen nur noch online einkaufen und der stationäre Handel nur noch als Museum dient. Ich glaube nicht daran.
Erstens: Weil angstmachende Nachrichten immer mehr Aufmerksamkeit erzeugen, aber weniger bedeutsam sind als Mut machende Prognosen.
Zweitens: Der aktuell als lähmende Konkurrenz kritisierte Distanzhandel existiert bereits seit Jahrhunderten, sowohl mit vorchristlichen Handelswegen, dem ersten Bestellkatalog von „Le Bon Marché“ (1856 wohlgemerkt) als auch mit dem Handel von frischen Produkten. „Fleurop“ verschickt ebenfalls bereits seit über 110 Jahren weltweit Blumen. Geschäfte gibt es aber immer noch.
Und drittens: Man vergisst bei der Rechnung eine wesentliche Komponente. Wir sind einfach doch „nur“ Menschen. Mit einem langfristig überdauernden Bedürfnis nach Menschlichkeit und einem guten Gefühl, nicht nach kurzweiligem geilen Geiz. Und darin liegt das Potential.
Ein reflektierter Blick auf die Geschichte zeigt, was auch die moderne Hirnforschung bestätigt: Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von sehr rationalen Aspekten wie Fortschritt, Technisierung und Digitalisierung. Wir fliegen bereits als Tourist zum Mond, spielen Gott und klonen Lebewesen, erzeugen Börsencrashs mit Geld, das es gar nicht gibt. Diese sonderbaren Wunder sind geprägt von der extrinsischen Motivation des Menschen, sich zu beweisen und zu behaupten. Was zählt ist monetärer Erfolg, eine egozentrische Karriere, Autonomie, scheinbare Zeitersparnis und Coolness.
Sicherlich in der heutigen postindustriellen Gesellschaft von immenser Bedeutung, doch zeigen sich in unserer Geschichte, unserer Politik und mittlerweile auch schon in unserer Natur zu tiefe und schmerzende Spuren, die wir hinterlassen haben und uns langsam Grenzen aufzeigen. Darum steht ein dringendes Umdenken an, das aber nicht neu erfunden werden muss, sondern das wir in uns tragen – unsere intrinsische Motivation: Dem Glück, der Gesundheit und Arterhaltung, der sozialen Zugehörigkeit und der facettenreichen Macht der Liebe.
Extrinsische Motivationen lassen sich besser beschreiben, spiegeln das Selbstbildnis wider, können sogar vom Finanzamt steuerlich erfasst und in Zeitungen verbalisiert oder Instagram-Accounts visualisiert werden. Doch sie kommen und gehen. Sogar Facebook ist schon wieder out.
Intrinsische Motivationen entziehen sich der sprachlichen und bildlichen Repräsentation, es geht um das Unbewusste, um Gefühle und um unsere inneren Triebe, die in vergangenen Jahren eher belächelt wurden, aber nun mit umso mehr Aufmerksamkeit, Zauber und Macht wieder Einzug halten. Sei es der Körper- und Fitnesskult, gesunde Ernährung oder die dringende Notwendigkeit von einem friedlichen Miteinander aller Menschen untereinander und auch in Bezug auf unsere Natur. Der Mensch besinnt sich: Wir haben nur ein Leben. Wir haben nur eine Erde.
Als ich letztes Jahr mit meinen Kindern in Ägypten in Urlaub war, flanierten wir an einem Geschäft vorbei, welches für europäische Augen eher provisorisch wirkte. Dennoch übte es eine unheimliche (magische?) Anziehungskraft aus. Ein roter, abgetretener Teppich lud ein, nach innen zu kommen und das Auge war fasziniert von farblich sortierten Flakons, einer abgesessenen aber opulenten Sitzecke und einem imponierenden Kronleuchter: Zwar kaputt, aber dafür unvergesslich, weil riesengroß. Zuerst wurden wir gefragt, wie es uns geht und welche Sorte Tee wir möchten (statt das übliche blabla „Kann ich Ihnen helfen? ... Nein, mir ist nicht mehr zu helfen“.) Nein, es war kein Teegeschäft. Es blubbert dampfend in einem wunderschönen Kupferkessel. Meine staunenden Kinder bekamen einen orientalisch verzierten Mini-Flakon als Geschenk und schon waren wir in einem zauberhaften Wohnzimmer der Gastfreundschaft. Mit Händen und Füßen unterhielten wir uns über die feinhandwerkliche Herstellung von Essenzen, der Magie von Düften, Gewürzen und feiner Öle... Hinterher fragten wir uns, warum es in Deutschland nur die sehr chemisch orientierte Parfum-Auswahl mit den oft streng gestylten Damen bei Douglas gibt.
Meine intrinsische Motivation reagierte: Ich „kaufte“ kein weiteres Parfum, mein Badezimmer ist voll davon. Aber ich „gönnte“ mir zwei unbeschreiblich betörende Duft- und Körperöle (Vanille und Sandelholz) mit Geschichten, die sicher auch eine Art traditionelle Marketingstrategie sind, aber mir eines gezeigt haben: Es geht um die Begegnung, nicht um den Kommerz. Ich habe etwas über Düfte und deren Tradition gelernt und gleichzeitig eine Stunde von Tausendundeiner Nacht erlebt. Natürlich habe ich dann gehandelt und mich „belohnt“, denn es war ein Vergnügen und Erlebnis, geprägt von Sinnlichkeit und Freude. Nicht jeder, der diesen wunderbaren Laden betreten hat, kaufte ein, aber jeder bekam einen Tee und einen Platz auf dem roten samtigen Sofa. Bei uns bekommst Du erst etwas angeboten, wenn Du was kaufst. Wir haben also Arroganz, aber es fehlt der Stolz.
Warum ich diese private Geschichte schreibe?
Mich hat diese Art der südländischen Gastlichkeit im Handel zum Nachdenken bewegt. Und mich beschämt gemacht, wie sehr wir uns in Europa nur um Marketing, wirtschaftliche Effizienz und Gewinnstrategien bemühen, statt auf die wirklichen Bedürfnisse der Kunden einzugehen. Nämlich das Bedürfnis nach Begegnung, Dialog und Verlässlichkeit.
Darin sehe ich Potential. Gerade für den Handel. Vielleicht ist es auch einer der Gründe, warum der online Handel so floriert: Hier ist zumindest keine schlechtgelaunte Verkäuferin und kein liebloses Ladengeschäft, wo das Produkt dann letztendlich genauso viel kostet wie beim digitalen Anbieter, der es mir sogar noch – schön verpackt – bis nach Hause bringt.
Fakt ist: Geschäfte ohne menschliche Komponenten verlieren jegliche Kundenbeziehung.
Nicht der vielgerügte Onlinehandel ist das Problem, sondern die stationären Händler, die mit einer modern-rationalen, alpinaweiß getünchten und nur gewinnorientierten Feilbietung unserer Produkte die Kunden an den Onlinehandel verschenkt haben. Das ist der springende Punkt. Und genau darin liegt IHRE Chance: Geschäftsräume mit Leben, Dialog und Liebe zu füllen.
Dialog und Resonanz: zwei Zauberwörter. Im Zeitalter von blutleeren Transaktionen und 90%iger Rücksendequote sehnen wir uns umso mehr nach den emotionalen aber umso wirksameren Komponenten: Ladenbaukonzepte, die bezaubernde Geschichten erzählen: Raum für Tradition und ehrliches Handwerk, für Individualisierung und Natürlichkeit. Platz für Chefs und Cheffinnen, die mit ihrem Namen und Leidenschaft im und hinter einem wunderschönen Geschäft stehen. Inszenierungen, die dem Produkt mehr Hochwertigkeit und Rahmen bieten. Konzepte, welche die Mitarbeiter und Kunden zu mehr Freude motivieren: Es muss wieder duften, wir brauchen passende Musik und Klänge, samtige Stoffe, streichelzarte Hölzer, lachende Gesichter und eine Scheibe Gelbwurst für unsere Kinder.
Selbst große Online Anbieter haben diese Kräfte und Chancen von impliziten Konzepten wiederentdeckt und bauen stationäre, erlebbare, sinnliche und dialogfähigere Geschäfte.
Ein Forschungsprojekt an der Klinik Charitè in Berlin zeigte, dass durch eine humanere, sinnlichere und dialogfähigere Gestaltung der Intensivstation der Heilungsprozess wesentlich und messbar beschleunigt wurde. Was zeigt das für den Handel auf? Sinnliche und sinnvolle Gestaltung beeinflusst unterbewusst unser Empfinden und Verhalten. Kurz: Ein passend gestaltetes Geschäft für mehr Umsatzfreude.
Wer sein Geschäft liebt, inszeniert es liebevoll (inspirierende Geschäftseinrichtungen müssen nicht unbedingt teuer sein), und schätzt seine Produkte, seine Mitarbeiter und seine Firmenphilosophie. Wer seine Kunden verzaubert und bereichert - statt aussaugt - wird immer Erfolg haben. Denn Handel ist Begegnung von Menschen. Und Menschen wollen geliebt werden. Die Zukunft ist nicht das, was auf uns zukommt: Unsere Zukunft ist, was WIR daraus machen.
Über den Autor:
Stefan Suchanek ist Ästhetiker, Retail Designer, Berater, Speaker und Dozent für visuelle Rhetorik, Inszenierung & Argumentation an der AMD Akademie für Mode & Design in München. Seine Expertise zieht er aus Erkenntnissen der traditioneller Gestaltungslehre, Evolutionsbiologie und Hirnforschung, um dialogfähigere, intelligentere und achtsamere Geschäfts- und Verkaufsräume zu gestalten: Räume die eine positive Resonanz erzeugen, den Menschen wertschätzen und durch Sinn und Sinnlichkeit ein nachhaltiges und umsatzsteigerndes Wohlgefühl überzeugen.