
Schon seit langem wird heiß diskutiert, wie sich der stationäre Handel neu erfinden kann. Denn es geht darum, die Innenstädte wiederzubeleben und sie als Erlebnisräume gegen den boomenden Online-Handel aufzustellen. Dann kam Corona. Die Pandemie hat auf einen Schlag eine ganze Branche in den Ausnahmezustand versetzt.
Doch Not macht erfinderisch: Der Lockdown stellte insbesondere die inhabergeführten, mittelständischen Einzelhandels-Betriebe vor große Herausforderungen und zwang diese ihr traditionelles Angebot zu überdenken. Die Beispiele, wie diese Einzelhändler neue Möglichkeiten für den Verkauf und die Kundeninteraktion ausprobiert haben, sind mannigfaltig. Ziel war es, einen Überblick über diese Ansätze zu bekommen und herauszufinden, wie Innovationen auch mit sparsamen Mitteln entstehen und umgesetzt werden können. Daher hat das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS eine Studie im regionalen Einzelhandel durchgeführt. Sie untersucht über einen Zeitraum von sieben Monaten diese Einzelhandelsexperimente und analysiert, welche Innovationen daraus bleiben könnten.
Das Spektrum ist breit: Insgesamt 21 verschiedene Dienstleistungs-Innovationen konnten in der Studie zu den Bereichen Beratung, Produktpräsentation und Zustellung identifiziert werden. Die traditionell im Geschäft stattfindende Beratung wurde telefonisch, im Video-Chat, oder über E-Mail und Messenger Dienste wie bspw. WhatsApp abgebildet. So konnten insbesondere inhabergeführte Einzelhändler ihr Wertversprechen der umfassenden Beratung in Teilen auch über Distanz aufrechterhalten. Dennoch muss für Kunden dieses Angebot auch sichtbar gemacht werden. Das Internet wurde zum Schaufenster für das eigene Geschäft und für die wichtigen Produktpräsentationen stellte sich Social Media als mächtiges Instrument heraus. Produkte wurden über Facebook, Instagram, WhatsApp & Co. präsentiert. Je nach Warengruppe entweder als Foto, oder auch sehr einfallsreich mit selbst erstellten Videos, Webinaren oder Online-Lesungen. Noch weiter ging eine Händlerin mit einem virtuellen Ladenrundgang. Ähnlich wie bei Google Street View können sich Kunden seitdem mit einem 360-Grad-Rundgang einen Überblick über das Angebot verschaffen. Schlussendlich müssen Kunden die Produkte auch erhalten können. Dafür gründeten Händler in kürzester Zeit Lieferdienste und Lieferzusammenschlüsse zwischen benachbarten Geschäften. Sie richteten auch kurzfristig neue Abholorte ein, wie etwa beim Bäcker oder Gemüsehändler um die Ecke.
Die Pandemie hat viele Einzelhandels-Betriebe zu etwas geleitet, was schon seit langem Erfolgszutat vieler Online-Giganten ist: dem aktiven Experimentieren. Ein Beispiel für ein klassisches Experiment im Online-Handel ist das sogenannte A/B-Testen. In einem A/B-Test werden zwei verschiedene Situationen dargestellt: A ist in der Regel die normale Situation und B ist die Modifikation, die das Ziel verfolgt, etwas zu verbessern. Die Situationen werden mit verschiedenen Benutzern durchgespielt und wichtige Kennzahlen werden gemessen und miteinander verglichen. Während sich dieses Experimentieren zunächst kompliziert anhört, steckt ein einfacher Prozess dahinter: Ideenfindung, Umsetzung der Idee, Effekt-Messung und die Entscheidung bezüglich der Fortführung.
Die Ideenfindung ist oft eine schwierige Phase. Was ist die Modifikation, mit der etwas verbessert werden kann? Oder bezogen auf den Lockdown, wie kann ich meine Kunden erreichen, obwohl mein Geschäft geschlossen ist? Im Großteil der beobachteten Fälle sind die eigenen Mitarbeiter Treiber für Kreativität und Ideenfindung, denn diese kennen ihre Kunden und deren Bedürfnisse. Gleichzeitig können Angestellte im Einzelhandel aber auch den Unternehmenskern und die organisationalen Fähigkeiten einschätzen. Ein Online-Shop erfordert beispielsweise andere Kompetenzen und hat andere Kunden als die Beratung auf der Ladenfläche. Die eigenen Mitarbeiter können dabei helfen abzuwägen, welche Ideen Mehrwert bieten und Investitionen wert sind. Ein positiver Nebeneffekt: viele Händler berichten von einer zusammenbringenden Erfahrung und gehen als Team gestärkt aus der Krise.
Für erste Prototypen braucht es nicht viel. In der Studie konnte beobachtet werden, dass auch mit geringen Mitteln Ideen beeindruckend schnell umgesetzt wurden. Unter den gegebenen Einschränkungen haben Einzelhändler beispielsweise Lieferungen zu den Kunden im Stadtbezirk per Fahrrad ausprobiert. Das Elektro-Lastenrad war schnell ausgeliehen und mit den Auslieferungen konnte begonnen werden. Ein anderer Händler begann mit dem Erstellen von YouTube-Videos, um die Aufmerksamkeit auf sein Geschäft und das Team zu erhöhen. Freunde und Bekannte halfen ihm dabei, die Videos aufzunehmen und zu bearbeiten. Wichtig ist, hier keine Scheu zu zeigen oder zu glauben, jeder Online-Auftritt und jedes Video müsse perfekt sein. Ganz im Gegenteil, selbst erstellte Inhalte zeugen von der Authentizität, die Kunden im inhabergeführten Einzelhandel so schätzen. Aktiv sein, Präsenz zeigen und „einfach ausprobieren“ waren wiederkehrende Aussagen von den befragten Händlern.
Was funktioniert und von was hatten wir uns mehr erhofft? Hier zeigt sich ein diverses Bild. Händler, die bereits Online- und Social Media-Kanäle nutzten, haben selbstverständlich auch in der Pandemie klassische Kennzahlen wie Reichweite, Traffic & Co angewandt. Bei vielen Experimenten, gerade im direkten Austausch und Beratungsgespräch, entschied oft das eigene Bauchgefühl und auch das direkte Kundenfeedback darüber, ob ein Experiment erfolgreich bewertet, weitergeführt, verbessert oder eingestellt werden soll. Eines ist jedoch wichtig zu verstehen: Innovation ist kein linearer Prozess. Auch die weniger erfolgreichen Experimente können viel Mehrwert bieten, denn sie führen zu neuen Einsichten, Ideen und Chancen.
Die in der Studie beobachteten Experimente und Dienstleistungs-Innovationen basieren auf den Stärken des inhabergeführten, stationären Einzelhandels: authentische Persönlichkeit, qualifizierte Beratung und Nähe zum Kunden. Es wird sich noch zeigen, welche der Neuerungen auch nach der Corona-Pandemie erhalten bleiben. Das aktive Experimentieren ist jedoch etwas, was der inhabergeführte Einzelhandel in seine Geschäftsprozesse übernehmen sollte. Denn oft bringen nicht die ganz großen Ideen den Fortschritt, sondern die Umsetzung von vielen kleinen Verbesserungen.
Über den Autor:
Maximilian Perez Mengual ist Experte für Innovation am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS. Seine Arbeit als Projektmanager und Forscher beschäftigt sich mit Räumen für Innovation und interaktiver Wertschöpfung, mit besonderem Schwerpunkt auf dem stationären Einzelhandel.